* 5 *

5. Donner
Donner

Jenna klammerte sich an die drahtige Mähne des Rappen, als Simon über den Palastrasen galoppierte und die Graseidechsen auseinander scheuchte, die Billy Pot eben erst wieder zusammengetrieben hatte.

Jenna liebte Pferde. Sie hatte selbst eines im Stall stehen, mit dem sie jeden Tag ausritt. Sie war eine gute und beherzte Reiterin. Warum also hatte sie jetzt Angst? Weil Donner in halsbrecherischem Tempo durch das Palasttor preschte? Oder weil Simon das Pferd so brutal antrieb? An seinen schwarzen Stiefeln trug er scharfe Sporen, nicht nur der Schau wegen. Zweimal schon hatte Jenna gesehen, wie er sie dem Pferd in die Flanken stieß, und ebenso wenig gefiel ihr, wie er an den Zügeln zerrte.

Simon ritt mitten auf der Zaubererallee. Er schaute weder links noch rechts und achtete überhaupt nicht darauf, ob jemand die Straße überqueren wollte – zufällig war es in diesem Augenblick Professor Weasal Van Klampff. Nicht ahnend, dass Marcia unterwegs zu ihm war, hatte sich der Professor auf den Weg zu ihr gemacht. Er wollte ihr etwas Wichtiges mitteilen, das nicht für die erstaunlich scharfen Ohren seiner Haushälterin Una Brakket bestimmt war.

Als der Professor versonnen die Zaubererallee überquerte und in Gedanken noch einmal durchging, wie er seinen Verdacht gegen Una Brakket begründen wollte – er war sich sicher, dass sie etwas im Schilde führte –, rechnete er überhaupt nicht damit, dass er von einem vorbeidonnernden großen Rappen umgerissen werden könnte. Doch genau das geschah. Und als der Professor sich wieder aufrappelte, verstört, aber bis auf ein paar Prellungen unverletzt, konnte er sich nicht mehr entsinnen, warum er hier war. Brauchte er vielleicht noch etwas Pergament? Eine neue Schreibfeder? Oder ein Pfund Karotten? Vielleicht sogar zwei? Umringt von dem besorgten Beetle und anderen Gehilfen, die ihm aus benachbarten Geschäften und Schreibstuben zu Hilfe geeilt waren, stand der pummelige kleine Mann mit den halbmondförmigen Brillengläsern und dem struppigen grauen Bart eine Weile mitten auf der Allee, schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu erinnern, was ihn hierher geführt hatte. Ein bohrendes Gefühl in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass es etwas Wichtiges gewesen war, doch es fiel ihm nicht mehr ein. Weasal Van Klampff schüttelte ein letztes Mal den Kopf, machte kehrt und ging, nicht ohne unterwegs drei Pfund Karotten zu kaufen, wieder nach Hause.

Donner jagte weiter im gestreckten Galopp die Zaubererallee entlang, vorbei an Geschäften, Druckereien und Buchhandlungen, deren stolze Eigentümer gerade damit beschäftigt waren, Handschriften im Sonderangebot und erstklassiges Pergamentpapier auszulegen. Beim Anblick des vorbeipreschenden Rappen hielten sie kurz inne und fragten sich, was die Prinzessin wohl mit dem schwarzen Reiter zu schaffen hatte. Und wozu diese Eile?

Im Nu hatte Donner den Großen Bogen erreicht. Jenna erwartete, dass Simon nun langsamer reiten, das Pferd wenden und zum Palast zurückkehren würde, doch stattdessen riss er kräftig an den Zügeln, und Donner bog scharf nach links ab und jagte den Diebessteig hinunter. In der schmalen Gasse war es dunkel und kühl nach dem hellen Sonnenschein auf der Zaubererallee, und es stank. In der Abflussrinne mitten im Kopfsteinpflaster schwamm dicker brauner Schlamm.

»Wohin reiten wir?«, schrie Jenna, die ihre eigene Stimme kaum hören konnte, weil die Hufschläge von den baufälligen Häusern zu beiden Seiten der Gasse widerhallten und ihr in den Ohren dröhnten. Da Simon keine Antwort gab, schrie sie noch einmal, diesmal lauter.

»Wohin reiten wir?«

Simon antwortete noch immer nicht. Plötzlich schwenkte das Pferd nach links, wich mit knapper Not dem entgegenkommenden Karren eines Fleischpasteten- und Würstchenverkäufers aus und geriet auf dem Schlamm ins Rutschen.

»Simon!«, protestierte Jenna. »Wohin reiten wir?«

»Halt den Mund!«, glaubte Jenna ihn sagen zu hören.

»Was?«

»Du hast genau verstanden. Halt den Mund! Du wirst schon sehen, wohin ich dich bringe.«

Jenna erschrak über den hasserfüllten Ton seiner Stimme. Sie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte gehofft, ihn falsch verstanden zu haben, doch als sie seine kalten Augen sah, wusste sie, dass sie richtig gehört hatte. Grausen packte sie.

Plötzlich änderte der Rappe abermals die Richtung. Es war beinahe so, als wollte Simon mögliche Verfolger abschütteln. Mit einem kräftigen Ruck am Zügel zwang er das Tier brutal nach rechts, und Donner tauchte in die Schlupfgasse ein, einen dunklen Durchgang, den zwei hohe Mauern begrenzten. Simons Augen verengten sich zu Schlitzen, als Donner durch die schmale Gasse jagte und unter seinen Hufen Funken sprühten. Am Ende der dunklen Passage konnte Jenna helles Tageslicht sehen, und noch während sie darauf zuflogen, entschloss sie sich, abzuspringen.

Sie holte tief Luft, als Donner wieder in die Sonne stürmte, doch mit einem Mal bäumte sich das Pferd auf und kam, ohne Simons Zutun, rutschend zum Stehen. Eine kleine Gestalt in grüner Lehrlingstracht versperrte ihnen den Weg und sah das Tier mit durchdringenden Augen an. Donner wurde durch einen Zauber gelähmt.

»Septimus!«, rief Jenna, so froh wie noch nie, ihn zu sehen. »Wie kommst du hierher?«

Septimus antwortete nicht. Er musste sich voll und ganz auf Donner konzentrieren. So etwas Großes wie ein Pferd hatte er noch nie erstarren lassen, und er bezweifelte, dass er gleichzeitig sprechen und den Zauber aufrechterhalten konnte.

»Aus dem Weg, Rotznase!«, schrie Simon. »Sonst reite ich dich nieder.« Zornig gab er dem Pferd die Sporen, aber Donner rührte sich nicht vom Fleck. Jenna witterte ihre Chance, denn Simon war abgelenkt. Sie versuchte einen Hechtsprung, doch er reagierte blitzschnell. Er bekam sie an den Haaren zu fassen und zerrte sie zurück in den Sattel.

»Au!«, schrie Jenna und schlug nach ihm. »Lass mich los.«

»Oh, nein, so haben wir nicht gewettet«, zischte er ihr ins Ohr und krallte seine Hand in ihr Haar, dass es schmerzte.

Septimus reagierte nicht. Er wagte kaum, sich zu bewegen.

»Lass ... Jenna ... los«, sagte er bedächtig, den Blick immer noch fest auf Donners aufgerissene Augen gerichtet.

»Was mischst du dich ein, Rotznase?«, knurrte Simon ihn an. »Die Sache geht dich nichts an. Du hast nichts mit ihr zu schaffen.«

Septimus wich nicht von der Stelle und starrte Donner weiter an. »Sie ist meine Schwester«, entgegnete er ruhig. »Lass sie los.«

Donner zuckte nervös. Er war zwischen zwei Herren gefangen, und das gefiel ihm gar nicht. Sein alter Herr saß im Sattel, fast wie ein Teil von ihm, und wollte weiter, und sein Wunsch war ihm Befehl. Doch vor ihm stand ein neuer Herr. Und dieser neue Herr wollte ihn nicht vorbeilassen, sosehr ihm sein alter Herr auch die scharfen Sporen in die Flanken drückte. Donner wollte seine dunkelbraunen Augen wegdrehen und sich von dem bannenden Blick des neuen Herrn losreißen, aber es ging nicht. Er wieherte unglücklich.

»Lass Jenna los«, wiederholte Septimus. »Sofort!«

»Und wenn nicht?«, fragte Simon mit einem spöttischen Grinsen. »Belegst du mich dann mit einem deiner jämmerlichen kleinen Zauber? Hör mal, Rotznase, ich habe mehr Macht in meinem kleinen Finger, als du in deinem ganzen armseligen Leben jemals haben wirst. Und wenn du nicht augenblicklich Platz machst, bekommst du sie zu spüren. Verstanden?« Simon deutete mit dem kleinen Finger seiner linken Hand auf Septimus. Jenna stockte der Atem. An dem Finger steckte ein klobiger Ring mit einem Umkehrsymbol darauf. Er kam ihr schrecklich bekannt vor.

Mit einem Ruck befreite Jenna ihren Kopf aus Simons Griff. »Was ist denn nur mit dir, Simon?«, schrie sie. »Du bist doch mein Bruder. Warum bist du so gemein?«

Simon packte sie mit der Linken an der Schärpe, und gleichzeitig verstärkte er den Griff der Rechten, die den Zügel hielt. »Damit das zwischen uns klar ist, Prinzessin«, knurrte er. »Ich bin nicht dein Bruder. Du bist nur ein unerwünschtes Kind, das mein leichtgläubiger Vater eines Abends mit nach Hause gebracht hat. Mehr nicht. Du hast uns nichts als Ärger gemacht, und du hast unsere Familie zerstört. Kapiert ?«

Jenna erbleichte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen und blickte hilfesuchend zu Septimus. Er schaute kurz zu ihr auf. Ihre Blicke trafen sich, und in derselben Sekunde spürte Donner, dass er frei war. Seine Nüstern blähten sich vor Erregung, seine Muskeln spannten sich, und schon war er fort, galoppierte pfeilschnell zu der gepflasterten Straße, die zum Nordtor führte.

Septimus sah dem Pferd fassungslos nach, bis es verschwunden war. Ihm war ganz schwummrig im Kopf. Der Lähmzauber hatte ihn sehr angestrengt, denn das Pferd hatte sich die ganze Zeit heftig gewehrt – kein Vergleich zu dem Kaninchen, das er normalerweise zur Übung erstarren ließ. Aber er wusste, dass er noch eine letzte Chance hatte, Jenna zurückzuholen, und er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu verscheuchen. Dann teleportierte er sich, noch ganz zittrig, mit einem Transportzauber zum Nordtor.

Septimus Heap 02 - Flyte
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